„Geschichte des Handwerks – Handwerk im Geschichtsbild“. Probleme der Archivierung, Forschung und Vermittlung.

„Geschichte des Handwerks – Handwerk im Geschichtsbild“. Probleme der Archivierung, Forschung und Vermittlung.

Organizer(s)
Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), Berlin
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
16.09.2013 -
Conf. Website
By
Inga Kienapfel, Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln

Am 16. September 2013 fand im Meistersaal des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) in Berlin der kooperative Workshop „Geschichte des Handwerks – Handwerk im Geschichtsbild: Probleme der Archivierung, Forschung und Vermittlung“ statt, zu dem mehr als 70 Vertreter aus der Archivwelt, der Wissenschaft, aus Museen, Handwerksorganisationen und Ministerien zusammengekommen waren. Mit der Einladung ist der ZDH der Anregung von Ulrich S. Soénius (Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln) gefolgt, die Archivierungsfrage im Handwerk zu diskutieren. So erklärte RAINER NEUMANN (Berlin) in seiner Begrüßung, er sehe in der Archivierungspraxis den Schlüssel zu einem differenzierten und wissenschaftlichen Geschichtsbild vom Handwerk, das helfen kann, historisch gewachsene Vorurteile gegen das Handwerk abzubauen und sein Image – und damit seine Chancen in der Gesellschaft – zu verbessern. Eine aktive Geschichtspolitik stehe von ihrer diskurspolitischen Bedeutung auf der gleichen Ebene wie die aktuellen Bemühungen des Handwerks um das immaterielle Kulturerbe und die Image-Kampagne des Handwerks.

Doch ist der Handwerksorganisation die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wichtig und wünschenswert? Wenn ja, was bedeutet sie für die tägliche Arbeit? Welche Chancen bietet sie dem Handwerk? Welche den Archivaren und Historikern? Lassen sich gegebenenfalls neue Erkenntnisse für die Wissenschaft gewinnen? Für die Beantwortung derartiger Fragen sollte der Workshop den Vertretern aller zusammengekommener Disziplinen wichtige Argumente und Impulse liefern. Aus Sicht der Handwerksorganisation sei es in jedem Fall eine gute Gelegenheit, sich intensiver mit der eigenen Rolle auseinanderzusetzen, sich selbst zu reflektieren und dadurch in Zukunft besser aufgestellt zu sein, so Neumann.

Was die Forschung bisher zu Handwerk geleistet hat und für welches Bild von diesem sie demzufolge verantwortlich ist, stellte REINHOLD REITH (Salzburg) in seinem Beitrag „Bilder vom Handwerk – und die (moderne) Handwerksgeschichte: Fragestellungen und Forschungsprobleme“ dar. Das heute vermittelte Bild von Handwerk ist veraltet, wie Reith gleich zu Anfang konstatierte, weil in der Literatur weitgehend Konsens darüber bestand und teilweise noch besteht, Handwerk und technischen Fortschritt als antithetisch zu betrachten, wie es die Historische Schule der Nationalökonomie tat, und dem Handwerk, in konsequenter Fortsetzung von Wolfgang Sombart, jegliches Gewinnstreben abzuerkennen. Derartige Positionen wurden – beeinflusst von der Modernisierungstheorie – auch in neueren Ansätzen der 1970er-Jahre aufgegriffen und haben ein unumstößliches Bild vom Niedergang des Handwerks geschaffen. Meist wurde dieser Standpunkt allerdings außerhalb der Handwerksgeschichte vertreten, wie Reith mit Hinweis auf die Göttinger Schule ergänzte, die immer schon auch die ökonomische Seite des Handwerks in den historischen Forschungsblick nahm. Dieses Bild herrschte nicht zuletzt deshalb so lange vor, weil das Handwerk selbst sich nicht zu schade war, es im politischen Diskurs zu instrumentalisieren. Andererseits wurde es im Kulturbetrieb über Ausstellungen, Dokumentationen und Sammlungen in die Öffentlichkeit transportiert. So wurde seit den 1920er-Jahren das Handwerk in diesen stets unter dem Aspekt seiner Verlustgeschichte dargestellt. Erst in jüngerer Zeit ist man dazu übergegangen, auch die Wandlungsprozesse in den Blick zu nehmen. Ebenso hat sich die Forschung zur Handwerksgeschichte in den 1980er- und 1990er-Jahren dahingehend gewandelt, Handwerk stärker unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten. Dennoch sind die Lücken in der deutschsprachigen Forschungslandschaft zum Handwerk nach wie vor groß, vor allem was das 19. und 20. Jahrhundert betrifft; zu sehr standen Mittelalter und frühe Neuzeit bisher im Blickpunkt des Forschungsinteresses. Hinzu kommt die schwierige Quellensituation sowie die geringen Ressourcen im Hochschulbereich, wie Reith anführte. Gleichzeitig betonte er, dass ein aktuelles Interesse am Thema durchaus gegeben ist und dieses ein breites Feld für wissenschaftliche Arbeiten bereithält. Wichtig ist, dass man Wege und Mittel findet, derartige Forschungsprojekte zu fördern, und wissenschaftliche Foren geschaffen werden, z.B. in Form einer Akademie, in denen man darüber im Gespräch bleibt, so Reiths abschließende Worte.

Sollte das Handwerk an den Universitäten stärker beforscht werden, würde zwangsläufig auch im Schulunterricht eine andere Sicht auf das Thema eingenommen, die die Vorurteilsbildung, wie sie bislang stattfinde, verhindern könnte. In seinem Vortrag „Chancen der Handwerksgeschichte in der Schule“ referierte WIELAND SACHSE (Göttingen) darüber, welchen Beitrag der schulische Geschichtsunterricht leisten kann, um die Handwerksforschung zu beleben und das öffentliche Interesse an dem Thema Handwerk zu fördern. Gleich zu Anfang machte er deutlich, dass sich die Behandlung handwerklicher Themen im Schulunterricht unter geschichtsdidaktischen Gesichtspunkten, das heißt unter Berücksichtigung der im Geschichtsunterricht zu erwerbenden Kompetenzen, hierfür gut eignet. Denn diese sollen weniger von historischen Erkenntnisprozessen als vielmehr von der Lebenswelt der Schüler ausgehen. Handwerkliche Produktion stellte zu allen Zeiten in allen Kulturen einen zentralen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens dar. Es sei pädagogisches Gebot, ein so entscheidendes Element lebensweltlicher Vergangenheit viel stärker im Unterricht zu thematisieren, so Sachse. Weiter sollten zur Erarbeitung des Themas auch Lernorte außerhalb der Schule aufgesucht werden. Insbesondere Archive und Museen dokumentieren mit Quellen und Exponaten Handwerksgeschichte anschaulich in all ihren Facetten – über Ackerbau und Viehzucht hinaus. So kann den Schülern ein realistisches, unvoreingenommenes Bild vom Handwerk vermittelt werden, was vor dem Hintergrund seines Nachwuchsbedarfs nicht zu unterschätzen ist. Für eine bessere Umsetzung handwerksgeschichtlicher Inhalte im Unterricht sieht Sachse auch die Archive in der Pflicht. In seinem Schlusswort regte er an, dass Archivalien künftig auch unter dem Aspekt ihrer unterrichtlichen Verwertbarkeit verzeichnet und mit dieser Kennzeichnung in ein intendiertes zentrales Quellen- und Archivalienverzeichnis eingetragen werden sollen.

Die Position des Handwerks vertrat THOMAS FELLECKNER (Braunschweig) der in seinem Beitrag „Auf der Suche nach dem Selbst: Der Umgang des Handwerks mit seiner eigenen Geschichte“ der Frage nach Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit von historischem Sachverhalt innerhalb der Handwerksorganisationen nachging. Felleckners Meinung nach, ist ihr Interesse an der eigenen Geschichte grundsätzlich groß, dem stünde seitens der Handwerksorganisation allerdings keine nennenswerte Anstrengung gegenüber. Insbesondere kritisierte Felleckner, dass ein Großteil der 100-Jahres-Chroniken der Handwerkskammern in handwerklich dürftiger Form – unter Vermeidung von Quellenbelegen, Ausblendung des Forschungsstandes und vor allem ohne Mitarbeit von Historikern – entstanden seien und deshalb wenig Erkenntnisgewinn und Nutzen zur Differenzierung des Geschichtsbilds bieten. Für ihn zeigt der Verzicht auf Fachleute bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte oder die geringe Anzahl der Archive innerhalb der Handwerksorganisation, dass diesbezüglich erheblicher Nachholbedarf besteht. Dabei sei historischer Sachverstand und ein professioneller Umgang mit der eigenen Geschichte für das gegenwärtige und zukünftige „Standing“ der Handwerksorganisation schlichtweg Notwendigkeit. Und hier müsse die Handwerksorganisation stellvertretend für sämtliche Handwerksbetriebe initiativ werden und die Geschichte des Handwerks und seiner Organisation für die Wissenschaft und Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, auch wenn das bedeute, sich von manchen liebgewonnenen Mythen zur eigenen Geschichte verabschieden zu müssen. Denn nur wer seine Vergangenheit kennt, vermeidet die Wiederholung von Fehlern, kann sich von seiner Entstehung her definieren und Selbstbewusstsein für die Bewältigung aktueller und kommender Herausforderungen gewinnen, so Felleckner. Damit sich etwas ändert, müssen die Entscheidungsträger der Handwerksorganisationen überzeugt werden, mehr Zeit, Geld, Fachpersonal sowie generell Bereitschaft in die Erschließung der eigenen Geschichte zu stecken.

Dabei kommt der Wert, den man der eigenen Geschichte beimisst, vor allem am angemessenen Umgang mit den eigenen Quellen zum Ausdruck, so Felleckner. Häufig wurde bisher schlicht die Gelegenheit verpasst, die Quellen zur Handwerksgeschichte zu erschließen und zu erhalten. Diese notwendige Sicherung und Erschließung der Handwerksquellen müsse dabei in einer konzentrierten Aktion ablaufen, das heißt dass sämtliche Organisationen eingebunden werden und über einen Facharbeitskreis im Austausch bleiben. Um zu vermeiden, dass auf einzelne Archive ein ungeordneter Schwall an Akten zukommt, sollen eine zentrale Sammelstelle eingerichtet und die Akten dort nach einem einheitlichen System strukturiert werden. Letztlich wünscht sich Felleckner die Realisierung eines zentralen, stets zu erweiternden „Digitalen Archivs des Handwerks“, das Benutzer darüber informiert, welche Quellen in welchem Archiv zu finden sind.

Einen Überblick über die derzeitige Situation von Handwerksquellen in Archiven gab ULRICH S. SOÉNIUS (Köln) in seinem Beitrag „Handwerksquellen in öffentlichen Archiven und regionalen Wirtschaftsarchiven: Zukunftsaufgabe Bestandsübersicht“, der von KLAUS SCHMITZ (Berlin) zum Stichpunkt „Archivrechtliche Fragen in der Handwerksorganisation“ ergänzt wurde. Von Gesetzes wegen unterliegen Handwerkskammern, Kreishandwerkerschaften und Innungen, anders als Unternehmen, Verbände oder Privatpersonen, der Archivierungspflicht, das heißt entweder unterhalten sie eigene Archive oder müssen ihre Akten den jeweils zuständigen Archiven anbieten. Dennoch liegen nicht einmal von der Hälfte der bundesweit 53 Handwerkskammern Bestände in staatlichen Archiven oder regionalen Wirtschaftsarchiven, so Soénius. Um ein Vielfaches lückenhafter ist die Überlieferung bei den Innungen und Kreishandwerkerschaften, für die eigentlich die Kommunalarchive zuständig sind. Hier gerate die Archivierung oft wegen fehlender Mittel ins Stocken. Oft entscheide der Zufall, ob ein Bestand seinen Weg ins Archiv findet. Für das Ansehen des Handwerks sei es jedoch wenig förderlich, wenn es in öffentlichen Archiven nicht als ein Bereich der regionalen Wirtschaftsgeschichte auftaucht, insbesondere dann nicht, wenn Archive als außerschulischer Lernort genutzt werden. Was den Zugang zu den Handwerksquellen ebenfalls erschwert, ist der fehlende Überblick darüber, welche Quellen in welchen Archiven liegen, wie Soénius kritisierte. Damit die vorhandenen Handwerksquellen im Interesse von Archiven, Wissenschaft, Wirtschaft, Museen und letztlich im Interesse des Handwerks besser genutzt werden können, schlug er vor, eine Bestandsübersicht durchzuführen, die dann als virtuelles Sachinventar jedem Interessierten frei zugänglich sein solle.

Dank seines interdisziplinären Charakters machte der Workshop deutlich, wie komplex die Problematik in punkto Erforschung von Handwerksgeschichte ist und wieviel Anstrengung noch erforderlich ist. Die rege Diskussion unter den Teilnehmern im Anschluss an die Vorträge zeigte aber, wie akut das Thema ist und wie groß die Motivation, dieses anzugehen. Der Workshop hat hierzu wichtige Impulse liefern können, die es jetzt sukzessiv umzusetzen gilt. Dass die Frage der Archivierung dabei von besonderer Dringlichkeit ist, wurde mehrheitlich anerkannt. Hier gilt es, die Entscheidungsträger der Handwerksorganisation von der Bedeutung der eigenen Geschichte und damit von der Notwendigkeit zu überzeugen, in Zukunft für eine bessere und breitere Quellenbasis zu sorgen. In Zusammenarbeit von Archivaren und Handwerksorganisation könnte eine zentrale Clearingstelle bedrohte Quellenbestände insbesondere aus Kreishandwerkerschaften und Innungen sichern. Um einen systematischeren Zugang zu den in den Archiven bereits existierenden Handwerksquellen zu erreichen, wurde ein bundesweites Sachinventar Handwerk bzw. ein gemeinsames digitales Findbuch angeregt.

In jedem Fall hat der Workshop bei den Historikern einen neuen Reflexionsprozess über das Handwerk in Gang gesetzt. Dieser sollte unbedingt als wissenschaftlicher Gesprächskreis fortgesetzt werden, um Forschungsprojekte zu befördern, die das gängige Vorurteil vom Niedergang des Handwerks hinterfragen und ein differenziertes Bild von der Geschichte des Handwerks zeichnen. Dieses sollte dann auch im Schulunterricht vermittelt werden. Denn die gesellschaftliche Bedeutung des Handwerks – darüber herrscht Einigkeit – ist groß; das muss sich künftig auch in den Geschichtsbüchern niederschlagen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung:
Rainer Neumann (Leiter der Gewerbeförderung, Zentralverband des Deutschen Handwerks, Berlin)

Moderation:
Sabine Wilp (Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Handwerkskammer Hannover)

Reinhold Reith (Universität Salzburg), Bilder vom Handwerk – und die (moderne) Handwerksgeschichte: Fragestellungen und Forschungsprobleme.

Wieland Sachse (Fachleiter Geschichte, Studienseminar Göttingen für das Lehramt an Gymnasien), Chancen der Handwerksgeschichte in der Schule.

Thomas Felleckner (Leiter Historisches Archiv der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade), Auf der Suche nach dem Selbst: Der Umgang des Handwerks mit seiner eigenen Geschichte.

Ulrich S. Soénius (Vorstand und Direktor der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln), Handwerksquellen in öffentlichen Archiven und regionalen Wirtschaftsarchiven: Zukunftsaufgabe Bestandsübersicht.

Klaus Schmitz (Rechtsanwalt, Zentralverband des Deutschen Handwerks), Archivrechtliche Fragen in der Handwerksorganisation.

Zusammenfassung und Empfehlungen:
Klaus Müller (Geschäftsführer des Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen)

Schlußwort:
Titus Kockel (Kulturreferat, Zentralverband des Deutschen Handwerks)


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